Wir hätten ihn nicht „Erde“ nennen sollen
Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung des gemeinnützigen Medienprojekts On Being und der Autorin Dr. Kate Marvel ins Deutsche übersetzt. Die Originalfassung des Artikels ist unter diesem Link zu finden.
Drei Viertel der Oberfläche unseres Planeten bestehen aus Salzwasser, das meist nicht zu unserer Belustigung an friedliche Strände schwappt. Der Ozean ist tief; Dinge verschwinden im Meer. Manchmal werfen wir sie hinein: Flaschenpost, die toten Körper meuternder Seemänner, Plastiksäcke mit Plastikmüll. Unser Abwasser.
Manchmal rutschen die Dinge, die wir verlieren, unbemerkt von Bord fahrender Schiffe. Wir erwarten nicht, diese verlorenen Objekte jemals wieder zu sehen, aber immer wieder werden sie durch wechselnde Strömungen und wirbelnde Strudel an die Ufer weit entlegener Strände gespült. Wir werden daran erinnert, dass Dinge, die verschwunden zu sein scheinen, die Gewohnheit haben, wieder aufzutauchen.
Ich habe keine Angst vor dem Ozean, obwohl ich welche haben sollte. An heißen Sommerwochenenden nehme ich meinen Sohn mit an den Strand. Er rennt mit wackligen Beinen ins Wasser, lacht über die trägen Wellen, die an seine speckigen Babybeine spritzen. Ich bleibe bei ihm und drehe ihn zurück, wenn das Wasser seinen nackten Bauch erreicht. Er ist zu jung, um zu wissen, dass das Meer tiefer ist, dass es irgendwann über den Kopf reicht und man schwimmen muss, um nicht zu ertrinken. Ich bin auf Alpträume vorbereitet, wenn er älter wird und von der schieren Größe des Ozeans und den realen wie den imaginären Monstern, die sich dort tummeln, erfährt. Er wird schon bald wissen, dass böse Überraschungen in der Tiefe lauern.
Ich bin Klimawissenschaftlerin, eine Computermodelliererin, die sich mit dem befasst, das wir in die Atmosphäre befördern. Auf den ersten Blick beschränkt sich meine Arbeit auf die Gefilde vollständig oberhalb der Unterwasserwelt und getrennt von dieser. Der Ozean und die Luft sind jedoch die großen Verschwörer unseres Klimas. Die Bewegungen der Atmosphäre, das Auf und Ab der Luft über uns, werden durch die Temperatur der Wasseroberfläche bestimmt. Tropische Ozeane wälzen sich hin und her und gestalten so einen großen Teil unseres Wetters.
In manchen Jahren, um die Weihnachtszeit, wird das Wasser des östlichen Äquatorialpazifiks ungewöhnlich warm. Dieser „El Niño“, ein fiktiver Besuch des Christkinds, sorgt für gewaltige tropische Gewitter über den warmen Wassermengen. Der tropische Osten wird überschwemmt; der Westen erleidet Dürre. Indonesien und Australien brennen.
Die Atmosphäre lauscht und trägt die Nachrichten des Meeres weit hinaus. Die Passatwinde werden schwächer, Barometerwerte fallen und steigen, Luftströme ändern sich. „El Nino“ bringt Regen in den US-amerikanischen Südwesten, milde Winter nach Südkanada und vermindert Hurrikans im Nordatlantik. Die Durchschnittstemperatur des gesamten Planeten steigt. Wir, alle von uns, stehen in Ozeans Gnaden.
Bevor es uns gab und nachdem wir gegangen sein werden, das Raunen des Meeres mit der Atmosphäre wird nicht aufhören. Wettermuster werden mit den natürlichen Schwingungen von Luft und Wasser weiter hin und her pendeln. Aber wir existieren und behandeln die Atmosphäre wie eine grenzenlose Müllkippe. Signale unseres Werks tauchen vor der Kakophonie des Lärms auf. Dinge ändern sich.
Tauche ins Meer ein, und kein Hemmnis wird dein Fortkommen hindern. An irgendeinem Punkt werden deine Trommelfelle platzen. Streife zu tief oder zu lang, dann blubbern Gasbläschen in deinen Gelenken. In Erde einzutauchen benötigt mechanische Unterstützung: Dreck unter den Fingernägeln, Schaufeln in verschwitzten Händen, motorgetriebene Bohrer.
Tief im Ozean kannst du ein versunkenes Schiff finden, trübes Gold, Fäden aufgelöster Kleidung an Skeletten. Tief in der Erde finden wir fossile Rohstoffe, komprimierte Überbleibsel urzeitlichen Lebens. Ihre Verbrennung bringt uns Licht und Energie und Hitze. Manches davon ist gewollt und lokal begrenzt. Anderes hingegen nicht.
Wir tun uns schwer, Treibhausgase zu verstehen. Gas als Gefahr zu begreifen gehört zu den traurigen Erfahrungen der Moderne. Dabei stellen wir uns widerlichen Gestank vor, der reizt und erstickt; gelbe Wolken auf einem Schlachtfeld in Flandern. Wir haben gelernt, dass Verbrennung Wärme bedeutet, aber dass deren geruch-, farb- und geschmacklose Nebenprodukte verweilen und sich einnisten, erscheint uns nicht vertraut. Doch sie verweilen. Sie fangen die Wärmeabstrahlung des Planeten ein und indem sie das tun, führen sie zu seiner Erwärmung.
Die Erwärmung folgt nicht unmittelbar. Dem System wohnen Verzögerungen inne: es gibt verschiedene Trägheitsmomente. Zuerst erwärmt sich die Luft, dann das Land, dann sorgen Winde für die langsame Durchmischung des lauen Oberflächenwassers mit den Abgründen des Ozeans. Die Hitze sickert langsam hinunter in die Tiefe, verwirbelt durch langsam umwälzende Strömungen. Der Ozean hat es nicht eilig mit der Erwärmung, aber er wird die Botschaft zur rechten Zeit erhalten.
Irgendwann werde ich meinem Sohn erzählen müssen, was ich getan habe. Mein komfortables, sicheres Leben fußt zu großen Teilen auf der Erfindung des Verbrennungsmotors. Fossile Brennstoffe treiben die Züge an, die uns zum Strand bringen, versorgen die Fabriken, die sein Plastik-Sandspielzeug herstellen, lassen die Lichter brennen, die ich ausschalte wenn ich ihm seinen „Gute-Nacht-Kuss“ gebe. Wir können kleine Einschränkungen hinnehmen: Recycling, Pfandflaschen für Wasser und Eistee, den Verzicht auf die gelegentliche Plastiktüte. Aber diese kleinen Dinge, selbst multipliziert mit einer großen Bevölkerung, sind am Ende nur ein kleiner Beitrag.
Ich kann mir oder meinem Sohn nicht die Bequemlichkeit des modernen Lebens vorenthalten und ich möchte ihn nicht durch radikale Veränderungen von Freunden und Familie isolieren. Ein kohlenstofffreies Leben scheint ein einsames zu sein: keine Reisen, um die Großeltern zu besuchen, verschämtes Absagen von Einladungen, statt kostbarer Zeit mit Freunden Gartenarbeit, Einkochen, Reparieren, Bauen. Ich suche nach politischen Lösungen, doch mein Engagement wird durch die Verzagtheit meiner persönlichen Entscheidungen zur Heuchelei. Letzten Endes bin ich verantwortlich für die Gase, die das Klima ändern und indem ich meinen Sohn in Komfort und Bequemlichkeit aufziehe, schiebe ich ihm diese Schuld und Verantwortung zu.
Treibhausgase führen unbestreitbar zur Erwärmung des gesamten Planeten. Wir bewegen uns auf eine Zukunft zu, in der die steigenden Ozeantemperaturen die natürlichen Schwankungen des El Niño überfluten werden. Es wird kein Wetter geben, das wir nicht irgendwie beeinflusst haben. Und unser Vermächtnis reicht tiefer als wir denken: Wir haben unseren Kindern eine Zeitbombe der Erwärmung hinterlassen. Selbst wenn wir es irgendwie schaffen, keine Treibhausgase mehr freizusetzen und ihre Konzentration auf heutigem Niveau einzufrieren, wird die Temperatur des Planeten weiter steigen, wenn die Hitze in die Tiefen sickert und ein neues Gleichgewicht erschafft. Der Ozean wird irgendwann wissen, was wir der Atmosphäre angetan haben. Der Prozess verläuft langsam, aber unerbittlich. Wir haben diese Erwärmung begangen, ein Vermächtnis für nachfolgende Generationen.
Als Klimaforscherin bin ich aktive Teilnehmerin eines Zeitlupen-Horrorfilms. Welch dunkle Geschichte, die man Kindern nachts am Lagerfeuer erzählt. Wir sind die perfekten, starrsinnig naiven Opfer: wir wurden gewarnt und taten es dennoch. Natürlich sind schaurige Märchen so alt wie die menschliche Geschichte und wir erzählen sie aus mancherlei Gründen. Aber hier ist der Schuldige Erzähler, Opfer und Bösewicht zugleich.
Die Moral dieses Märchens ist düsterer und undurchsichtiger als die Einfachheit eines Kindermärchen es verlangt. Am Ende der Geschichte bleibt die Furcht. Wir verbrennen weiterhin fossile Brennstoffe und die dadurch erzeugten Gase fangen weiterhin Hitze ein, erwärmen die Luft, das Land, die seichten Gewässer. Die Hitze mischt sich tief ins Meer, ein langer, langsamer Pfad bis zum Gleichgewicht. Es gibt keinen Weg, diesen Vorgang aufzuhalten.
Was erzähle ich meinem Sohn? Ein Monster wartet in der Tiefe und irgendwann wird es dich holen. Wir wissen das. Wir haben es dort hingebracht.