Green Deal in Gefahr!

Rund ein Viertel der bekannten Tier- und Pflanzenarten auf unserer Erde sind bedroht, davon ist die Hälfte stark gefährdet oder sogar vom Aussterben bedroht. Laut Europäischer Umweltagentur hat sich der Erhaltungszustand europäischer Tierarten und Ökosysteme im Zeitraum 2013 bis 2018 verschlechtert. Das hat auch Folgen für uns Menschen, denn ohne gesunde Ökosysteme stehen uns weder trinkbares Wasser, noch saubere Luft, fruchtbare Böden, fischreiche Ozeane, bestäubte Obstbäume, biobasierte Wirkstoffe und vieles mehr zur Verfügung. Auch die Gefahr von Zoonosen wie Covid19 wird durch den Druck auf Wildnisgebiete in Zukunft noch wahrscheinlicher.

 

Vor diesem Hintergrund lagen große Hoffnungen auf dem Europäischen Grünen Deal. Als Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für den Zeitraum 2019 bis 2024 beinhaltet der Green Deal eine Reihe an neuen und aktualisierten Gesetzen zum Schutz unserer Umwelt und damit unserer Lebensgrundlagen. Doch der Green Deal wird attackiert, und seine Gegner finden Gehör. Es macht sich das ungute Gefühl breit, dass die Zielsetzungen des Green Deal nicht nur versäumt, sondern bereits Erreichtes um Jahre und Jahrzehnte zurückgeworfen werden könnte.

 

Im Schatten des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs auf die Ukraine durch den russischen Präsidenten Putin wittern manche die Chance, unliebsame Vorgaben für den Schutz der Biodiversität auf Eis zu legen. Vor dem Hintergrund erwarteter Ernteausfälle aus der Ukraine und geringerer landwirtschaftlicher Importe aus Russland machen sich große Agrarindustrieverbände stark, den Umweltschutz auszusetzen, um einer vermeintlichen Hungersnot entgegenzuwirken. Dabei ist Nachhaltigkeit kein Gegenspieler der Lebensmittelsicherheit, sondern sogar zwingende Voraussetzung. Was unsere Lebensmittelproduktion, Gesundheit und Umwelt bedroht, sind Pestizide, überdüngte Böden, das Insektensterben und kranke Gewässer. Das Artensterben bedroht schon heute unsere Ernährungssicherheit. Nur nachhaltige und vielfältige Ökosysteme sichern unsere Lebensgrundlagen und steigern nachweislich die Ernten. Es gibt allerdings Potential für die Erhöhung der Lebensmittelverfügbarkeit: Auf 70 Prozent der Agrarflächen wachsen Tierfutter und Biosprit. Diese Ernteerträge wandern nicht etwa auf die Teller von Bürgerinnen und Bürgern, sondern in Tiertröge und Verbrennungsmotoren, hauptsächlich in der Massentierhaltung. Mehr als 25 Prozent unserer Lebensmittel landen im Müll. Doch statt gegen Lebensmittelverschwendung vorzugehen und die Nutzung von Biosprit auszusetzen, soll es nun der Umwelt an den Kragen gehen.

 

Obwohl die drängenden Gefahren der Biodiversitätskrise schon lange bekannt sind, wurden in der Vergangenheit statt politisch bindender Maßnahmen oftmals nur freiwillige Selbstverpflichtungen erlassen. Dass Lippenbekenntnisse wenig bewirken, hat sich oftmals gezeigt. Die 2010 verabschiedeten strategischen Ziele für Biodiversität (“Aichi-Ziele”) wurden verfehlt, ebenso die Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie 2020. Das für November 2021 angekündigte EU-Renaturierungsgesetz sollte Abhilfe schaffen. Die erste echte Naturgesetzgebung seit 20 Jahren sollte bindende und ambitionierte Ziele beinhalten. Als die Vorstellung des Gesetzes zunächst um einen und dann um drei weitere Monate verschoben wurde, bestand zunächst die Hoffnung, dies erfolge mit dem Ziel einer besseren Ausarbeitung. Doch nun wurde es wieder vertagt und soll erst im Sommer 2022 vorgestellt werden.

 

Der Druck der Agrarlobbys und einiger EU-Mitgliedstaaten führt zu einem umweltzerstörerischen Dominoeffekt. Nicht nur wird das EU-Renaturierungsgesetz zum zweiten Mal auf die lange Bank geschoben, auch das Gesetz zur nachhaltigeren Pestizidnutzung bleibt vorerst in einer Kommissionsschublade liegen. Die angekündigten Bewertungen der Folgen der EU-Agrarpolitik für Bodengesundheit, Ökosysteme und Biodiversität wurden sogar komplett gestrichen. Nachhaltige Forstwirtschaft und Agraraspekte im Lieferkettengesetz stehen ebenfalls auf der Kippe.

 

Die Europäische Union wird unvorbereitet und mit leeren Händen zur 15. Weltbiodiversitätskonferenz (COP15) nach Kunming fahren. Auch die COP15 wurde bereits mehrfach, wenn auch pandemiebedingt, verschoben. Mit dem EU-Renaturierungsgesetz im Gepäck hätte die Europäische Union als Vorbild und Führungsfigur für ein globales rechtsverbindliches Abkommen zum Schutz der Artenvielfalt werben können. Das Europäische Parlament hatte das bereits in seiner Resolution zur UN-Biodiversitätskonferenz Anfang 2020 gefordert. Wir Abgeordnete sprachen uns dabei auch für die Unterschutzstellung von mindestens 30 Prozent der Landflächen und der Meeresgebiete weltweit bis 2030 aus sowie für die Renaturierung von mindestens 30 Prozent der geschädigten Ökosysteme bis 2030. Die COP15 hätte ein Meilenstein für die Biodiversität unseres Planeten werden sollen, vergleichbar mit dem Pariser Klimaschutzabkommen. Die Hoffnungen hierfür sind noch nicht begraben, aber ohne eine glaubhafte und ambitionierte Europäische Union werden die Verhandlungen auf globaler Ebene erschwert.

 

Die Biodiversitätskrise stellt gemeinsam mit der Klimakrise die existentielle Gefahr für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation dar. Wir können nicht länger achselzuckend zusehen, wie Strategien scheitern und Ziele nicht erfüllt werden. Gerade im Bereich der biologischen Vielfalt erfordert das einen Wechsel von freiwilligen Verpflichtungen zu rechtlich verbindlichen Zielen.