Atomkraft ist nicht die Zukunft: World Nuclear Industry Status Report 2019

Der Klimawandel ist die drängendste und größte Herausforderung unserer Zeit. Um die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen, ist eine umfassende Umstellung auf emissionsfreie Energie unabdingbar. In diesem Kontext wurden in den vergangenen Jahren Stimmen laut, die einen Ausbau der Atomkraft für notwendig halten. Der World Nuclear Industry Status Report 2019 (WNISR), der von zahlreichen unabhängigen Wissenschaftlern erarbeitet wurde und als eine der relevantesten Informationsquellen zum Status der Kernenergie weltweit anerkannt ist, macht allerdings unmissverständlich klar, dass Atomkraft keine zukunftsfähige Lösung ist.

Aktueller Status der Atomenergie

Momentan gibt es weltweit 31 Staaten, die in insgesamt 417 Reaktoren Atomenergie produzieren. Dabei entfallen allein auf die USA, Frankreich, China, Russland und Südkorea zusammen 70 % der weltweit erzeugten nuklearen Elektrizität. Der WNISR schlüsselt genau auf, wo wie viele Atomkraftwerke in Betrieb sind, wo neue Kraftwerke geplant oder gebaut werden und wo Kraftwerke dauerhaft außer Betrieb sind oder geschlossen werden. In den anderthalb Jahren von Anfang 2018 bis Mitte 2019 wurden 13 Atomkraftwerke neu in Betrieb genommen, fast ausschließlich in China und Russland. Im selben Zeitraum wurden demgegenüber 14 Reaktoren endgültig geschlossen, darunter auch mehrere Reaktoren in Japan, die schon seit der Katastrophe in Fukushima 2011 nicht mehr aktiv betrieben wurden. Über einen längeren Zeitraum betrachtet wird allerdings deutlich, dass das Auslaufen der Atomkraft schon in vollem Gange ist: 2002 gab es mit 438 Meilern die meisten Kernkraftwerke weltweit, heute sind es noch 417. 1996 hatte Atomstrom mit 17.46 % seinen historisch höchsten Anteil an der weltweiten Stromerzeugung, 2018 waren es nur noch 10,15 %. Viele der bestehenden Reaktoren steuern auf das Ende ihrer Lebensdauer zu. Der weltweite Altersdurchschnitt aller Kraftwerke beträgt 30,1 Jahre, in der EU sind es sogar 34,4 Jahre.

 

In den meisten Ländern wird eine maximale Betriebsdauer von 40 Jahren vorgesehen, wobei Verlängerungen auf 50 oder teilweise sogar 60 Jahre in Planung sind. Doch selbst unter Berücksichtigung möglicher Verlängerungen ist aber klar, dass der Großteil der bestehenden Kernkraftwerke in wenigen Jahren vom Netz genommen werden wird. Der WNISR prognostiziert, dass zwischen 2020 und 2030 188 Reaktoren abgeschaltet werden, was die Zahl der neu gestarteten Reaktoren der letzten zehn Jahre um mehr als das Dreifache überschreitet. Zudem nimmt die Anzahl der neuen Bauprojekte seit 2010 stetig ab. 46 neue Reaktoren befinden sich momentan im Bau, die durchschnittliche Bauzeit beträgt knapp 10 Jahre. Durchschnittlich wird zudem jedes achte Bauprojekt im Zeitraum zwischen Planung und Vollendung aufgegeben. Diese Zahlen zeigen eindeutig, dass die Bedeutung der Atomkraft in den nächsten Jahrzehnten sinken wird – und das sogar ohne ihre gezielte Abschaffung.

Atomkraft ist keine Lösung

Der WNISR macht aber auch unmissverständlich klar, dass jeder in die Atomkraft investierte Euro ein Verlust für den Klimaschutz ist. Denn um dramatische Folgen des Klimawandels abzuwenden, muss schnell gehandelt werden. Um die Erderwärmung zu begrenzen, darf der Ausstoß von CO2 nicht als einzige, isolierte Messgröße betrachtet werden; entscheidend ist vielmehr, dass möglichst viel CO2 in möglichst geringer Zeit und zu möglichst geringen Kosten eingespart wird. Denn viel Zeit bleibt nicht, wenn die Pariser Klimaziele eingehalten werden sollen. Durch die Nutzung von Erneuerbaren Energien wie Wind- und Solarenergie kann in viel kürzerer Zeit und zu erheblich geringeren Kosten mehr CO2 eingespart werden als durch den Aufbau einer neuen Reaktorflotte. Atomkraftwerke sind, abgesehen von ihren enormen Konstruktionskosten, auch im laufenden Betrieb so teuer, dass sie ohne massive staatliche Subventionen ökonomisch schlicht unrentabel sind. Erneuerbare Energien können in den meisten Staaten wirtschaftlich mittlerweile mit bereits bestehenden Atomkraftwerken konkurrieren, sogar wenn die Infrastruktur dafür, beispielweise die Wind- und Solarstromanlagen, erst neu gebaut werden muss. Die Kosten für die Erzeugung von Solarstrom in den USA sind zwischen 2009 und 2018 um 88 % gesunken, die Kosten für Windstrom um 69 %. Demgegenüber sind die Kosten für Atomstrom um 23 % gestiegen.

Laufende Atomkraftwerke behindern aktiv den Ausbau dargebotsabhängiger Energieformen wie Wind- und Solarenergie. Denn die Reaktorblöcke sind viel zu träge, um rasch hoch- und heruntergeregelt zu werden, um sich der Leistung der Erneuerbaren anzupassen. Sie blockieren die Netzkapazitäten, sodass in manchen Gebieten keine weiteren Windenergieanlagen zugelassen werden.

Der Weiterbetrieb von Kernkraftwerken bindet finanzielle Mittel, die so dem klimafreundlichen Ausbau der Erneuerbaren Energien entzogen werden. Zudem kann der Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen in sehr viel kürzerer Zeit erfolgen als der Neubau von Atomkraftwerken. Ersetzt man die aus fossilen Brennstoffen gewonnene Energie durch Erneuerbare Energie, können fossile Kraftwerke mehrere Jahre früher abgeschaltet werden, als wenn man auf den Neubau eines Atomkraftwerks warten muss. Der WNISR bringt es auf den Punkt: „Das Klima zu stabilisieren ist dringend, Atomkraft ist langsam.“

Situation in Fukushima

Aus dem Bericht wird damit eindeutig klar, dass Atomkraft keine zukunftsfähige Technologie und erst recht keine klima- und umweltfreundliche Technologie ist. Dies würde sogar dann gelten, wenn alle Reaktoren einwandfrei und ohne Zwischenfälle arbeiten würden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die Katstrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986 hinterlässt auch heute noch ihre Spuren. Der WNISR befasst sich ausführlich mit den Folgen der Katastrophe in Fukushima vom 11. März 2011 und der aktuellen Situation dort. Auch neun Jahre später sind die Aufräumarbeiten in den verschiedenen Reaktorblöcken noch nicht maßgeblich vorangekommen. Teilweise wurde mit der Entfernung von abgebrannten Brennelementen und verseuchtem Material begonnen, in anderen Bereichen fehlt es aber sogar noch an einer Strategie für die notwendigen Dekontaminierungs- und Entsorgungsmaßnahmen. Ein großes Problem stellen nach wie vor die riesigen Mengen radioaktiv verseuchten Wassers dar, welches zur Kühlung der havarierten Reaktorblöcke verwendet wird. Mehr als eine Million Kubikmeter verseuchten Wassers werden mittlerweile in Tanks gelagert, aus Platzmangel ist geplant, es in den Pazifik abzulassen. Die Folgen dieser Maßnahme sind nicht abzusehen, Fischer und Anwohner protestieren heftig.. Auch die Millionen Kubikmeter radioaktiv verseuchter Erde, die bis 2018 aus der unmittelbaren Umgebung der Atomkraftwerke entfernt wurden, wurden nur zu einem geringen Teil fachgerecht eingelagert. Die Zukunft zehntausender Anwohner*innen, die die Gegend um Fukushima verlassen mussten, ist weiterhin unklar. Knapp 7.300 Arbeiter*innen sind bei den Aufräumarbeiten in Fukushima beschäftigt und müssen sich täglich Gesundheitsrisiken aussetzen.

Auch ohne einen Reaktorunfall wie in Fukushima ist die Stilllegung eines Atomkraftwerks eine extrem zeit- und kostenintensive Herausforderung. Mitte 2019 waren von den 181 stillgelegten Reaktoren weltweit nur 19 vollständig rückgebaut, 162 befinden sich dagegen noch immer in verschiedenen Abwicklungsphasen. Die Lagerung von Atommüll verursacht beinahe unlösbare Probleme.

Wende hin zu Erneuerbaren Energien

Es ist daher nicht nur eine erfreuliche, sondern auch ökonomisch sinnvolle und letztlich alternativlose Entwicklung, dass Staaten überall auf der Welt in den letzten Jahren verstärkt auf Erneuerbare Energien setzen. 2018 wurden weltweit Investitionsentscheidungen in Höhe von ca. 33 Milliarden US Dollar im nuklearen Sektor getroffen. Demgegenüber wurden über 134 Milliarden US Dollar in Windenergie und 139 Milliarden US Dollar in Solarenergie investiert. Sogar China, das weltweit die meisten Atomkraftwerke neu baut, investiert ungleich mehr in Erneuerbare Energien – allein im Jahr 2018 wurden hier 91 Milliarden US Dollar investiert, dagegen wurden im gesamten Zeitraum 2008 – 2019 nur 82 Milliarden US Dollar in Atomkraft investiert.

2018 produzierte China 1.870 TWh Erneuerbare Energien, dagegen nur 277 TWh Atomstrom. Im Jahr 2018  wurden 165 GW Erneuerbare Energien zusätzlich aufgebaut, während die nuklearen Erzeugungskapazitäten nur um 8,8 GW erhöht wurden. In vielen Staaten, beispielsweise in China und Indien, wird allein durch Windenergie wesentlich mehr Strom erzeugt als durch Atomkraft. In der EU stammten 2018 32,3 % des Stroms durch Erneuerbare Energien erzeugt, in Deutschland sind es sogar 40 %, wohingegen nur 13,2 % der Elektrizität aus Atomkraft stammt.

Je schneller die unrentablen und unflexiblen Atomkraftwerke vom Netz genommen werden, desto eher können die so freigesetzten Mittel in Erneuerbare Energien investiert werden. Nur so ist eine konsequente, zukunftsfähige und klimaverträgliche Energiewende möglich.

Der WNISR 2019 kann hier heruntergeladen werden: https://www.worldnuclearreport.org/-The-Annual-Reports-.html